Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Konsulatsberichte über die deutsche Gesellschaft in der NS-Zeit 1933-1945

Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Konsulatsberichte über die deutsche Gesellschaft in der NS-Zeit 1933-1945

Organisatoren
Axel Schildt / Frank Bajohr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg (FZH)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.02.2009 - 28.02.2009
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Von
Armin Nolzen, Redakteur der „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“

2005 initiierte die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) ein Editionsprojekt, das sich einer von der Forschung bislang vernachlässigten Quellengruppe widmet. Dabei handelt es um die Lageberichte, welche die im Deutschen Reich ansässigen Konsulate verschiedener Staaten über das nationalsozialistische Deutschland verfassten und an ihre jeweiligen Botschaften oder Gesandtschaften in der Reichshauptstadt Berlin sandten. Das Erkenntnisinteresse gilt der Außenwahrnehmung des „Dritten Reiches“, also dem „fremden Blick“ dieser ausländischen Diplomaten auf das NS-Regime. Zwölf Länder wurden ausgewählt, darunter Großbritannien, Frankreich, die USA, die Nachbarstaaten Polen, Schweiz und Niederlande, die Bündnispartner Japan und Italien sowie überseeische Handelspartner wie Argentinien und Costa Rica. Ziel des Projekts ist eine thematisch fokussierte Auswahledition dieser Konsulatsberichte im Rahmen von Länderstudien. Als Bearbeiter wurden ausgewiesene Experten gewonnen, die in einem ersten Schritt alle relevanten Dokumente in den jeweiligen Nationalarchiven erfassten. Dieser Prozess ist größtenteils abgeschlossen und die beteiligten Wissenschaftler kamen in Hamburg zusammen, um erste Ergebnisse vorzustellen sowie Reichweite und Grenzen dieser bisher vernachlässigten Quellengruppe für die NS-Forschung auszuloten.

Zu Beginn des Workshops betonte FRANK BAJOHR (FZH) den besonderen Quellenwert der Konsulatsberichte. Diese wurden im Gegensatz zu regimeinternen Lageberichten von nicht-nationalsozialistischen Berichterstattern verfasst, die sich zumeist für einen längeren Zeitraum im Deutschen Reich aufgehalten hatten. Darüber hinaus umriss er einige Leitfragen zur Auswertung der Konsulatsberichte. Das besondere Interesse gelte, so Bajohr, zum einen dem wechselnden Verhältnis zwischen NS-Regime und deutscher Bevölkerung, zum anderen der Wahrnehmung der NS-Judenverfolgung. Über beide Fragen wurde auf der Basis der Länderstudien intensiv diskutiert. Deren Bearbeiter zeichneten in ihren jeweiligen Vorträgen die komplexe Überlieferungslage derselben sowie die institutionelle und personelle Struktur der konsularischen Apparate nach. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien und Dänemark sind lediglich die politischen Berichte der Botschafter und Gesandten erhalten geblieben. Andere Länder wie die Schweiz, Italien und Polen pflegten hingegen eine eher dezentrale Berichterstattung, bei der die einzelnen Konsulate oftmals direkt mit ihren Außenministerien korrespondierten, ohne den Umweg über die Berliner Botschaften zu nehmen. In allen Beispielländern bestehen nicht unerhebliche zeitliche Lücken in der Berichterstattung, die unterschiedlichen Gepflogenheiten der Aufbewahrung und der Aktenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges geschuldet sind. Jedoch wird sich durch die vergleichsweise hohe Zahl an Länderbeispielen eine die gesamte NS-Zeit umfassende Dokumentation der Berichte realisieren lassen.

Naturgemäß sind die einzelnen Konsulatsberichte von unterschiedlicher Länge und inhaltlicher Qualität. Als besonders ergiebig erwiesen sich die französischen, britischen und amerikanischen Berichte. Der französische Botschafter André François-Poncet, der an deutschen Universitäten Germanistik studiert hatte und sein Land von 1931-1938 in Berlin vertrat, lieferte jährlich sage und schreibe 1.500 Berichte ans Quai d’Orsay ab, die in einem überaus geschliffenen Stil abgefasst waren und eine eigene totalitarismustheoretische Interpretation des NS-Regimes beinhalteten. Die Berichte George Messersmiths, amerikanischer Generalkonsul in Berlin, den man im State Department auch „forty-pages-George“ nannte, waren ähnlich ausführlich, wenngleich im Ton grobschlächtiger, da er die Nationalsozialisten als „Psychopathen“ oder „Verbrecher“ titulierte. Dem Kammerherrn Herluf Zahle, einem Sozialdemokraten, der von 1920-1942 als dänischer Gesandter in Berlin fungierte, gelangen gute Beobachtungen zur Stimmung der Bevölkerung. Die schweizerischen, polnischen und argentinischen Konsulatsberichte liefern wichtige Einsichten zur Aufnahme der NS-Judenpolitik in der deutschen Bevölkerung. Weniger aussagekräftig scheinen die japanischen und italienischen Berichte zu sein, die sich eng an nationalsozialistische Sprachregelungen hielten, obgleich im Falle Italiens weitere Recherchen nötig sein werden, da das historisch-diplomatische Archiv im italienischen Außenministerium
(Archivio storico-diplomatico del Ministero degli Affari esteri) die letzten beiden Jahre geschlossen war. Bemerkenswert ist allerdings, dass italienische Konsuln trotz ihrer politischen Nähe zum Achsenpartner durchaus kritisch über die Behandlung der Kirchen, die Verfolgung der Juden oder die Repression des NS-Staates berichteten.

Thematisch stehen in den Berichten die „Gleichschaltung“ im Jahre 1933, die Judenverfolgung, der Kampf des NS-Regimes gegen die katholische Kirche, die Reichsparteitage und die Außen- und Expansionspolitik im Vordergrund. Weniger erfährt man zur Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten, obwohl vielen Botschaftern und Konsuln die Existenz der Konzentrationslager, über die sie auch früh und ausführlich berichteten, teils aus eigener Anschauung bekannt war. Hier macht sich allerdings die soziale Herkunft der Berichterstatter bemerkbar. Zumeist stammten sie aus der Aristokratie und dem gehobenen Bürgertum und verfochten einen radikalen Antibolschewismus, der sie bisweilen auch mit dem NS-Regime sympathisieren ließ. Der NSDAP als Massenbewegung standen die meisten Berichterstatter mit unverhohlener Ablehnung gegenüber, weil sie als Ausdruck jenes plebejischen Charakters galt, dessen schnellstmögliche Überwindung man sich von Hitler erhoffte. Ihre Informationen bezogen die Botschafter und Konsuln aus Tageszeitungen, den Berichten der Industrie- und Handelskammern und aus ihrem deutschen Freundes- und Bekanntenkreis, der umso größer war, je länger sie sich schon in Deutschland aufgehalten hatten. Der Schweizer Generalkonsul in Köln Franz von Weiss verkehrte gar in den Kreisen des ehemaligen Oberbürgermeisters Konrad Adenauer und unterhielt intensive Kontakte zum bürgerlichen Widerstand. Seine Berichte waren nicht nur überaus kritisch, sondern stets auch wohl informiert.

In der Diskussion über die einzelnen Länderstudien standen Aspekte der Quellenkritik sowie die Frage nach den Interpretationsmöglichkeiten dieser Dokumente für die NS-Forschung im Mittelpunkt. Es kristallisierte sich die übereinstimmende Ansicht heraus, dass die Konsulatsberichte als sehr subjektiv gefärbte Quellen zu bewerten sind, die zum einen die damals gängigen Deutschlandbilder und nationalen Stereotypen sowie die spezifischen Beziehungen des jeweiligen Landes zu NS-Deutschland widerspiegeln, zum anderen aber auch die persönlichen Interessen der Berichterstatter. Aus diesem Grund werden die einzelnen Länderstudien einen gewissen Schwerpunkt auf die Biografien der Berichterstatter und die institutionelle und personelle Struktur ihrer diplomatischen Dienste legen, um der Forschung eine quellenkritische Einordnung der Dokumente zu ermöglichen. Alle Teilnehmer betonten den hohen Quellenwert, den die Konsulatsberichte für die Analyse des Verhältnisses zwischen NS-Regime und deutscher Bevölkerung besitzen. Sie stellen eine wichtige Ergänzung der Lageberichte der Geheimen Staatspolizei, der Deutschlandberichte der exilierten Sozialdemokratie sowie der „Meldungen aus dem Reich“ des Sicherheitsdienstes der SS dar, die von der Forschung gemeinhin recht unkritisch benutzt werden. Demgegenüber kann der „fremde Blick“ der Konsulatsberichte dazu beitragen, die Befunde der regimeinternen Berichterstatter zu differenzieren, wenn nicht, wie sich in einigen Länderstudien andeutete, zu korrigieren. Endgültige Aufschlüsse über das Ausmaß von Konsens beziehungsweise Dissens in der NS-Volksgemeinschaft sollte man sich davon jedoch nicht erhoffen. Die Edition der Konsulatsberichte, die von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wird, ist für 2010 geplant.

Konferenzübersicht:

Konferenzeröffnung

Axel Schildt und Frank Bajohr (FZH)

Panel 1: Die europäischen Nachbarn 1

Moderator: Frank Bajohr (FZH)
Frankreich ― Jean-Marc Dreyfus (Universität Manchester)
Polen ― Jerzy Tomaszewski (Universität Warschau)

Panel 2: Die europäischen Nachbarn 2

Moderator: Michael Wildt (Hamburger Institut für Sozialforschung)
Schweiz ― Gregor Spuhler (ETH Zürich)
Dänemark ― Therkel Straede (Universität Odense)

Panel 3: Die transatlantische Allianz

Moderator: Armin Nolzen (Ruhr-Universität Bochum)
USA ― Christoph Strupp (FZH)
Großbritannien ― Eckart Michels (Birkbeck College, Universität London)

Panel 4: Die überseeischen Handelspartner

Moderator: Christoph Strupp (FZH).
Argentinien ― Holger Meding (Universität Köln)
Costa Rica ― Christiane Berth (FZH) und Dennis Arias (San José/Berlin)

Panel 5: Die Achsenmächte

Moderatorin: Christiane Berth (FZH)
Italien ― Ruth Nattermann (Deutsches Historisches Institut, Rom)
Japan ― Tatsushi Hirano (Universität Tokio)

Abschlussdiskussion


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